Die den Originalen zugrunde liegenden Themen stellt Onejiru - auch durch ihre eigene Migrationserfahrung und persönliche Biographie - in einen globalen Kontext. Ein Blick, der heute angesichts weltweiter Migrationsbewegungen und Ströme wichtiger ist denn je.
Sich selbst fremd fühlen, zu etwas Fremdem gemacht werden, Ängsten begegnen, Ängste vertreiben, das Fremde und Andere als Glück und Bereicherung zu begreifen und schätzen zu lernen. Offen sein: Ein roter Faden, der sich durch die 13 Neukompositionen zieht, textlich und vor allem musikalisch.
Inspiriert wurden Arfmann und seine Mitstreiter von den Ideen, dem Tatendrang und dem Repertoire des russischen Kunstliebhabers und Impresarios Sergej Diaghilew. Mit seiner Künstlergruppe Ballets Russes revolutionierte Diaghilew zu Beginn des 20sten Jahrhunderts den in Traditionen erstarrten europäischen Ballettbetrieb. Innovativ, sinnlich und grenzüberschreitend in allen Bereichen der bildenden Kunst, markierten die Ballets Russes einen kreativen Höhepunkt der so genannten Belle Epoque.
„Uns alle haben die Arbeiten und die Philosophie der Ballets Russes zutiefst beeindruckt“, so Arfmann.
„Die Radikalität, das Sprengen der Genregrenzen sowie die künstlerische und intellektuelle Auseinandersetzung mit dem musikalischen und philosophischen Erbe aus dieser Zeit ist ungemein faszinierend.
Die „Ballets Russes“ läuteten die Moderne ein, feierten das Transkulturelle, das Sinnlich-Phantastische, das Queere, bevor Europa in erschreckender Weise an Nationalismus, Imperialismus und Gier zugrunde ging. Ich frage mich heute: was ist übrig geblieben von der Idee der Freiheit in Zeiten kleingeistiger Pegida-Aufmärsche und beschämender Kleinstaaterei? Wo ist die „Idee Europa“ geblieben? Mit ihren freiheitlichen, aufgeklärten und humanistischen Idealen? Mit der Freiheit des Denkens, der Freiheit des Individuums?“.
Mit Ballet Jeunesse zeigt Arfmann, dass Erinnerung und Reflektion neue Impulse für die Gegenwart schaffen. Da, wo sie nicht in tradierten Mustern und Denkstrukturen verhaftet bleiben. Wenn man bereit ist für Veränderung, das Neue sucht, offen für Überraschungen und mutig ist.
Dass er ein Überzeugungstäter ist, hat Arfmann in seiner Karriere schon mehrfach beeindruckend unter Beweis gestellt.
Der gebürtige Bremer mit Klavier- und Gesangsausbildung veröffentlichte bislang als Künstler und Produzent über 150 LPs und CDs.
Er gründete Mitte der 80er Jahre die Underground-Band „Kastrierte Philosophen“, machte sich als Produzent der Erfolgsalben u.a. von Patrice, Absolute Beginner und Jan Delay auch im Hip-Hop einen Namen. Einzelproduktionen für Künstler und Bands wie Seeed, Beatsteaks oder Die goldenen Zitronen finden sich ebenso in seiner künstlerischen Vita wie Verpflichtungen als Remixer für Songs von Aloe Blacc, Udo Lindenberg, Herbert Grönemeyer oder Tom Jones. Der zweifach Echo-Nominierte ist Gründer des losen Künstlerkollektivs „Turtle Bay Country Club“ und veröffentlichte 2005 unter dem Titel „DEUTSCHE GRAMMOPHON Recomposed by M. Arfmann“ bereits Bearbeitungen von älteren Orchesteraufnahmen der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Herbert von Karajan.
Er wusste also aus seiner langjährigen Erfahrung: sollte er von den Inhabern und Verwaltern der Rechte an den Originalen der ausgewählten Ballett-Klassiker nicht die Erlaubnis für deren Bearbeitung bekommen, so wäre die Arbeit und das Herzblut der letzten Jahre umsonst gewesen.
„Mir war von Anfang an klar, dass ich all diese Bewahrer, so möchte ich sie mal nennen, nur mit einem fertigen Ergebnis der Umsetzung meiner Idee überzeugen konnte. Mit einer freundlichen Anfrage um Erlaubnis, der Bearbeitung wäre „Ballet Jeunesse“ nie Wirklichkeit geworden. Als unsere 13 Stücke dann 2014 fertig waren, ging ein unglaublich Nerven zehrender Freigabemarathon los“, erinnert sich Arfmann heute.
Doch als an dessen Ende die bereits zu Anfang erwähnte erstmalige weltweite Freigabe von den Erben Sergej Prokofieffs für die Bearbeitung seiner Kompositionen stand, „wurde ein Traum wahr“, so Arfmann stolz und glücklich zugleich. Der Weg war frei. Sämtliche Orchesterparts der Stücke wurden danach mit dem Babelsberger Filmorchester neu eingespielt und im Studio mit dem neuen Material und den Gesangsparts abgemischt.
Das „Ballet Jeunesse“ eröffnet einen neuen Zugang zu den Klassikern der europäischen Ballettmusik. Indem es sie in seinen Neuinterpretationen aus den Theatern auf die Tanzflächen, in die Clubs, in die Tagesprogramme von Radiostationen, die Single- und Albumcharts und in die Streaming-Playlisten der Pop-Gegenwart der„digital natives“ holt.
„Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass es da ein Vakuum gibt. Jungen Leuten sagen die großartigen Kompositionen heute nicht mehr viel. Man ist mit ein paar Leitmotiven bestenfalls noch als Untermalung für Werbespots oder Film- und Fernsehproduktionen vertraut, aber dann ist auch schon Schluss. Die wenigsten besuchen heute noch ein Theater, nehmen sich die Zeit, sich einem komplexen Werk in aller Ausführlichkeit zu widmen. Mein Wunsch ist es, mit dem „Ballet Jeunesse“ da stattzufinden, wo junge Menschen mit Musik in Berührung kommen und aufmerksam sind“, so Arfmann.
So schieben sich Strawinskys Feuervogel, Tschaikowskys Nussknacker, Saties/Debussys Gymnopédies oder Holsts The Lure gekonnt auf die Tanzflächen der Clubs oder erobern sich die besten Plätze beim Sundowner in den angesagten Strandbars, während Peter und der Wolf mit dem Reggae ein Freundschaftspfeifchen rauchen und Ravels Daphnis und Chloé schwer mit den Pop-Charts flirten.
Eines ist sicher: Matthias Arfmanns Ballet Jeunesse wird 2016 für Gesprächsstoff sorgen. Vielleicht wird es die Gralshüter der abendländischen Hochkultur auf den Plan rufen. Bestenfalls wird es eine Generation in ihrer eigenen musikalischen Sprache an die Klassiker der Ballettmusiken heranführen.
Arfmann selbst übt sich in der Einschätzung und Erwartung auf die Rezeption seines Werkes lieber in Bescheidenheit:
„Ich würde mich sehr freuen und es wäre eine Ehre für mich, wenn junge Leute über unsere Bearbeitungen die Originale zum allerersten Mal für sich entdecken. Dann hätte sich die ganze Arbeit über all die Jahre schon gelohnt. Frei nach Sam Cooke denke ich: „a change is gonna come...“
Das Album erscheint im September 2016.